„Sprechen und Zuhören – wie die Demokratie gestärkt werden kann“
Mit dem Aufkommen der Sozialen Medien und einer Krise wie der Corona-Pandemie hat sich die Gesprächskultur auch in Deutschland teilweise drastisch verändert. Statt eines respektvollen Umgangs und dem sachlichen Austausch von Argumenten erleben wir immer mehr, wie Menschen im Dialog nur auf ihren Standpunkten beharren, keinen Konsens suchen und die Meinung des anderen herabwürdigen. Die Folgen sind gravierend. Es gibt eine Spaltung der Gesellschaft, das Aufkommen von Demokratiefeindlichen Gruppen und Hass und Hetze vor allem in der Anonymität des Internets.
Um dem und anderen Missständen entgegen zu wirken, sind Vereine wie „Mehr Demokratie e.V.“ aktiv geworden. Sie haben neue Gesprächsformate entwickelt und auch bereits in Brühl erfolgreich umgesetzt. „Sprechen und Zuhören“ heißt die Veranstaltungsreihe, die von Ina Poppelreuter von „Mehr Demokratie“ und dem Filmemacher Thorsten Kleinschmidt in Brühl initiiert wurden und die nun am 7. Mai um 19 Uhr im Begegnungszentrum margaretaS bereits zum dritten Mal stattfindet. Thema diesmal:
Wie geht‘s dir mit dem, was in der Welt passiert?
„Die Ausgangsfrage unseres Dialogformats ist sehr einfach. Sie lautet: Wann hatten Sie zuletzt das Gefühl, dass Ihnen wirklich zugehört wird?“ sagt Ina Poppelreuter, Brühler Bürgerin und Pressesprecherin von „Mehr Demokratie“. Dieses Thema beschäftigte auch Thorsten Kleinschmidt. Ihn haben seine Erfahrungen bei seinem Filmprojekt anlässlich der sehr hitzigen Debatte um die Mobilitätswende in Brühl und die Sperrung des Belvedere-Parkplatzes in 2023 geprägt.
Er stellte sich Fragen wie: „Wie können wir vor Ort etwas bewegen, ohne uns weiter zu polarisieren? Wie bleiben wir auch mit denen im Gespräch, die politisch anderer Meinung sind? Wie können wir einen Raum schaffen, in dem jede und jeder die aktuelle Stimmung, Frust oder Zuversicht mitbringen kann?“
Thorsten Kleinschmidts Antwort: „Es braucht den persönlichen Austausch - ganz analog. Es braucht auch, dass wir gegenseitiges Zuhören wieder neu erfahren. Genau da setzt dieses Format von Mehr Demokratie an. Mir gefällt, dass es so simpel ist: In kleinen Gruppen sprechen, zuhören und sich selbst dabei beobachten.“
Im September fand im Rathaus die Premiere zum Thema „Sorgen oder Zuversicht: Wie blicken Sie in die Zukunft?“ statt, die von dem sehr erfahrenen Mehr-Demokratie-Moderator Josef Merk moderiert wurde. 30 interessierte Brühler waren gekommen. Im Februar wurde mit bereits 60 Teilnehmern über die Frage „Was wünsche ich mir für unser Zusammenleben in Brühl?“ gesprochen. Der Zuspruch, das Interesse und vor allem das Feedback stimmen Ina Poppelreuter und Thorsten Kleinschmidt optimistisch.
„Der Moderator Josef Merk lag richtig mit seiner Prognose“, sagt Thorsten Kleinschmidt. „Er sagte voraus, dass sich die Atmosphäre im Raum komplett verändern würde. Die Teilnehmer sprachen von einem Gefühl von Verbundenheit und dass sie sich jetzt wacher fühlten. Oder dass man Menschen, die man eigentlich kennt, noch mal anders kennengelernt hat. Man kann das nur schwer im Nachgang beschreiben. Ich empfehle jedem, es einfach auszuprobieren.“
Eine Voraussetzung für den Erfolg des Formats ist, den richtigen Rahmen zu finden, einen „sicheren Raum“, in dem sich alle wohlfühlen. Dann gibt es einen festen Ablauf. Es beginnt mit der Begrüßung, einer inhaltlichen Einführung und Erläuterung des Formats.
Redezeit vier Minuten
Danach bilden sich Kleingruppen von drei bis vier Personen. In diesen jeweiligen Kleingruppen finden drei Gesprächsrunden statt. Jede Person bekommt dreimal eine Redezeit von vier Minuten und darf während dieser Zeit nicht von den anderen unterbrochen oder befragt werden. Haben alle gesprochen, geht es zurück in die große Runde, in der einzelne Stimmen und Eindrücke aus den Kleingruppen gehört werden. „Ohne dass direkt Emotionen ausgesprochen werden müssen, werden dabei doch Empfindungen spürbar“, meint Ina Poppelreuter. „Dadurch bekommen alle ein Gefühl dafür, wo der oder die andere steht. Beim Zuhören entstehen Empathie und Respekt, insbesondere dann, wenn wir Ähnlichkeiten zu eigenen Erfahrungen erkennen.“
Die Teilnehmer gingen mit einer Menge positiver Erfahrungen aus der Runde. „Viele sind sich bewusster geworden, wie sie in der Tiefe zu einem Thema stehen“, berichtet Ina Poppelreuter. „Sie haben außerdem die Erfahrung gemacht, dass eine demokratische Verständigung möglich ist. Das führt häufig zu mehr Gelassenheit, Entspannung und Zuversicht.“
Thorsten Kleinschmidt ergänzt: „Es war für viele neu, teils bewegend, ganz sicher bereichernd. Es war für jeden einzelnen etwas anderes. In der Schlussrunde haben wir gesammelt, was sich jetzt anders anfühlt als vorher.“ Das Ergebnis: „Ich fand es berührend, wie ehrlich und tief ich mit Menschen ins Gespräch gekommen bin, die ich vorher überhaupt nicht kannte. Das macht mich zuversichtlich für die Verbindung und den Zusammenhalt bei uns in der Stadt“, sagte eine Teilnehmerin. „Die Herausforderung war eher das Zuhören, dass man es aushält, den Mund zu halten. Gleichzeitig war die Erfahrung besonders wertvoll, zu erkennen, dass aus dem Zuhören, etwas Neues wächst. Das weckt Vertrauen und Zuversicht. Es war eine sehr positive Erfahrung“, meinte eine andere.
Was bedeutet das alles für die Demokratie? „Wir müssen im Gespräch miteinander bleiben, um gut zusammenzuleben und die Zukunft gestalten zu können“, glaubt Thorsten Kleinschmidt. Nach seinen Erfahrungen rund um das Verkehrswende-Filmprojekt vom Sommer 2023 und der Lektüre des Buches „Die zerrissene Gesellschaft“ von Claudine Nierth und Roman Huber, das ihn sehr angesprochen hat, beschloss der 40-Jährige, sich für die Demokratie und eine neue Gesprächskultur in Brühl einzusetzen.
Positives Gruppengefühl
In Ina Poppelreuter fand er eine Gleichgesinnte. Die 28 Jahre alte gebürtige Kölnerin lebt ebenfalls in Brühl. Sie studierte Politikwissenschaft und arbeitet als Pressesprecherin für den Verein „Mehr Demokratie“, der vor 35 Jahren gegründet wurde mit dem Ziel, bundesweite Volksentscheide durchzuführen. Sie freut sich über die ersten beiden gelungenen Veranstaltungen, an denen sie auch aktiv teilgenommen hat. „Ich fand das positive Gruppengefühl beeindruckend“, sagt sie. „Manche Teilnehmer sind müde hierher gekommen und wieder energiegeladen nach Hause gegangen. Aus Sorge kann Zuversicht werden.“
Dazu trägt auch bei, dass zum Abschluss der Gesprächsrunden auch eine gemeinsame Mahlzeit obligatorisch ist. „Eine Suppe beispielsweise hat Tradition und darf nicht fehlen“, mein Ina Poppelreuter.
Zusammen mit Thorsten Kleinschmidt hat sie inzwischen auch Fortbildungen in Moderation absolviert. Das Projekt „Sprechen und Zuhören“ hat inzwischen ein vielfältiges Interesse geweckt, das sich nicht nur auf Brühl beschränkt. Es haben auch schon Menschen aus Köln und Bonn teilgenommen. Außerdem sind einige Anfragen eingegangen von Menschen, die das Format auch in ihrer Stadt anbieten wollen.
Die positive Resonanz macht die beiden Brühler Initiatoren stolz und sind ein Ansporn weiterzumachen. So können sie sich gut vorstellen, dass „Sprechen und Zuhören“ auch etwas für Schulen wäre. Immerhin nahm an der zweiten Veranstaltung auch ein 11-jähriger Junge teil, der sich wie alle anderen gut einbringen konnte.
„Es zieht seine Kreise, und das ist positiv. Unser Wunsch wäre es, dass wir vielleicht in Zukunft einmal ein Event mit 500 Teilnehmern in einer richtig großen Halle in Brühl veranstalten“, meinen die beiden. So unrealistisch scheint das gar nicht zu sein.
Tobias Gonscherowski