„Der pädagogisch erhobene Zeigefinger bleibt bei uns unten”
Sie gehören zu einer liebgewordenen Tradition im Kindergarten von St. Stephan. Alle Jahre wieder führen dort die „TheaterChaosten“ zu besonderen Anlässen eigene Theaterstücke auf. In diesem Jahr wird unter der Regie von Ulrich Zettler das Stück „Die sieben Helden“ gezeigt, das sehr frei einige Motive des berühmten Grimm-Märchens „Sieben Schwaben“ aufgreift. Nach dem Premierenwochenende wird das Stück noch einmal am 19. und 20. Mai jeweils um 16 Uhr im Saal neben dem Kindergarten St. Stephan gespielt.
Angefangen hat alles vor rund 30 Jahren mit einer Idee. Während meistens bei Aufführungen in Kindergärten die Kinder ihren Eltern etwas vorspielen, sollte es diesmal umgekehrt sein. Die Eltern würden zusammen mit den Kindern auf der Bühne für ihre Kleinen spielen und in ungewohnte Rollen schlüpfen. Und so kam es dann auch. Das erste von inzwischen sechs Stücken war eine Adaption des „Rattenfänger von Hameln“, das anlässlich eines Sommerfestes gezeigt wurde und bestens vom Publikum aufgenommen wurde. Und schon damals spielte ein kleines Mädchen mit, das in der Rolle einer Ratte den Ratsherren um die Füße herum wuselte. Das kleine Mädchen ist heute längst verheiratet und Mutter, heißt Julia Berke-Dahmann und steht gemeinsam mit ihrem Mann Hendrik erneut auf der Bühne von St. Stephan.
In unregelmäßigen Abständen, meist zu Jubiläen und anderen Feierlichkeiten des Kindergartens, kamen weiter Stücke dazu, bei denen Ulrich Zettler stets Regie führte und auch die Vorlagen lieferte. Entweder in Form von Adaptionen bereits bekannter Stücke oder eigener Werke. Dem Kindergarten ist der bekannte Regisseur verbunden, seit ihn sein Sohn einst besuchte.
Schon sechs Stücke gespielt
Die Theateraufführungen erfreuen sich jedes Mal großer Beliebtheit, auch wenn Ulrich Zettler manches Mal befürchtete, „von der Kirche eins aufs Dach zu bekommen“. Nämlich dann, wenn die Theaterfreunde im Saal nach der Aufführung eine ziemliche Sauerei hinterlassen hatten. Aber das gehört zu lebendigen Stücken einfach dazu. „Wir machen Sachen in den Stücken möglich, die normalerweise nicht gemacht werden“, schmunzelt der 67-jährige Regisseur. Den Teilnehmern gefällt es. Viele Eltern haben spontan Lust, bei den Projekten mitzumachen.
Ulrich Zettler macht in Brühl bereits seit Jahrzehnten Theater. 1973 gründete er zusammen mit anderen Theaterfreunden das bekannte „Kleine Theater Brühl“, das aus einem Kurs der Volkshochschule heraus entstand. Bis zu seiner Pensionierung vor sieben Jahren leitete Ulrich Zettler die Volkshochschule Rhein-Erft, insgesamt 23 Jahre lang, und gab auch selbst immer wieder Theaterkurse.
Weitere Stücke, die im Kindergarten gespielt wurden, waren „Katze, liebe Katze“, „Peterchens Mondfahrt“ zum 40-jährigen Bestehen des Kindergartens 1997, „Alfons, Ritter von Höhenangst“ sowie „Huddel im Kinderzimmer“. Der Aufwand wurde größer, der Erfolg blieb. Und die Unterstützung durch die Leiterin Gabi Simon auch. Seit 1977 leitet die gebürtige Brühlerin die Einrichtung, genauso lange liebt sie die Theaterproben, an denen sie stets teilgenommen hat. „Ich habe kein Stück verpasst und konnte meine Leidenschaft fürs Theater ausgeleben”, freut sich Gabi Simon.
Musik von Vätern extra fürs Stück komponiert
Auch in der neuen Produktion mischt sie munter mit. Das Ensemble besteht diesmal nur aus Erwachsenen, aus neun Frauen und zwei Männern. Es ist faszinierend zu beobachten, mit welcher Begeisterung sie alle dabei sind, mit welcher Hingabe die Bühnendekoration gebaut und die Bühnenbilder gemalt werden. Auch die Musik wurde extra für das Stück selbst geschrieben. „Zwei Väter haben die Musik komponiert und werden die sechs Lieder bei dem Stück live spielen“, erzählt Ulrich Zettler vom tollen Engagement aller Beteiligten. „Wir spielen Stücke von Eltern für Familien und keine Kinderstücke. Auch die Erwachsenen sollen sich angesprochen fühlen und auf ihre Kosten kommen.“ Mit Rücksicht auf die Kinder dauert das Stück aber nicht länger als 45 bis 50 Minuten.
Die Geschichte der „Sieben Helden“ besteht darin, dass am Bodensee ein „uuungehoires Uuuungehoier“ gesichtet wurde, das es auf Geheiß des Herzogs zu erledigen gilt. Die wackeren Männer ziehen nicht ganz freiwillig, dafür aber gut ausgerüstet los. Sie bestehen zahlreiche Abenteuer, wenn auch nicht immer erfolgreich und begegnen dann tatsächlich irgendwann dem „Uuuungehoier“.
Schon aus der kurzen Inhaltsangabe wird ersichtlich, dass bei diesem wie bei allen anderen Stücken der „TheaterChaosten“ der „pädagogisch erhobene Zeigefinger unten bleibt“, so Ulrich Zettler. „Wir haben mit dem einst von Schiller angemahnten Theater als Bildungsanstalt nichts am Hut. Bei uns werden die Leute beschimpft, aber alles natürlich im Rahmen.“ Denn im Publikum sitzen ja Familien, Kindergartenkinder und deren Geschwister. Aber ein bisschen frech darf es natürlich schon sein.
„Hat ein Regisseur auch Freunde?”
Die Proben werden nach dem „MG-Prinzip“ durchgeführt. „MG bedeutet: möglichst gut“, erklärt der Regisseur. „Die Stücke sollen ansehbar sein.“ Doch im Vordergrund steht in erster Linie der Spaß. Dennoch lässt es sich Ulrich Zettler nicht nehmen, die Laiendarsteller so weit zu pushen, dass er auch schon einmal die Antwort bekommt: „Hat ein Regisseur eigentlich auch Freun- de?“
Ulrich Zettler kann mit diesen Sticheleien gut umgehen. Er ist Theatermann mit Leib und Seele. In seiner Freizeit schreibt er auch selbst gerne Stücke, manchmal auch nur „für die Schublade“. Manche Sachen verschwinden, viele werden wieder herausgeholt. „Ich habe Spaß und Ehrgeiz beim Schreiben“, sagt Ulrich Zettler. „Ich fange an, wenn ich das Gefühl habe: Das könnte etwas werden.“ Zahlreiche Stücke aus seiner Feder wurden schon veröffentlicht, so etwa im Deutschen Theaterverlag.
Großartig unterstützt werden die TheaterChaosten im Kindergarten St. Stephan. Die Einrichtung hatte in den 55 Jahren ihres Bestehens gerade einmal zwei Leiterinnen. Gabi Simon übernahm die Leitung 1977 und geht ihrem Job auch heute noch mit großer Freude nach. Sie hat früher im Kleinen Theater mitgespielt und keine Aufführung im Kindergarten verpasst. „Die Grundlagen des darstellendes Spiel habe ich in einem VHS-Kurs bei Ulrich Zettler gelernt“, erinnert sie sich. Im aktuellen Stück hat sie die Rolle des „Waldbruder“ übernommen.
Sollte der Inhalt der „Sieben Helden“ in einem oder zwei Sätzen zusammengefasst werden, so würde Ulrich Zettler dies mit den Worten des deutschen Sprach- und Literaturwissenschaftlers Jakob Grimm wie folgt tun: „Kühnen und Wagenden steht ungesehen das Glück bei, plötzlich ist etwas geraten.“
Tobias Gonscherowski